„Fußball in Perfektion“

Bayer Leverkusens grandiose Auftritte bekommen mit dem nahenden Ausverkauf der Besten tragische Züge. Aus Trotz will man nach dem 4:2 gegen Liverpool die Champions League gewinnen

aus Leverkusen BERND MÜLLENDER

Thomas Brdaric, der einfache Nationalspieler, wurde nachher grundsätzlich: „Deutschland kann stolz auf uns sein.“ Solche vollmundigen Bekenntnisse werden hier zulande normalerweise mindestens belächelt oder auch kopfbeschüttelt – aber im Kern hat Leverkusens Angreifer durchaus Recht. Man hat schon viele brillante Auftritte gesehen von Bayer in dieser Saison, aber die 4:2-Gala gegen den FC Liverpool war noch einmal eine fulminante Steigerung.

Es war ein großer Fußballabend. Zwischen 64. und 84. Minute kippte das Viertelfinale viermal hin und her. Ein Herzinfarktspiel, bei dem man Angst um Gerard Houllier bekam, Liverpools Coach, der vor einem halben Jahr in der Halbzeitpause eines Ligaspiels einen Infarkt erlitten hatte und am offenen Herzen notoperiert werden musste. Houllier tat das einzig Richtige: nichts. Eine regungslose Buddhastatue für seinen Bypass.

Allmählich wird es Zeit, erste Seiten im Geschichtsbuch des deutschen Fußballs für dieses Bayer Leverkusen zu verfassen: Soll man den permanenten Angriffswirbel, diese zweimal wöchentliche wundervolle Demonstration von Raffinesse, leichtfüßigem Spielwitz und dynamischem Ballstreicheln allmählich auf eine Stufe stellen mit Mönchengladbachs Konterkicken der 70er? Oder ist es, in Zeiten nüchternen Erfolgsfußballs, längst viel mehr? Ein ekstatisches Aufbegehren gegen die kalte Rationalität zeitgenössischen Ballbewegens?

Das Publikum tobte sich euphorisiert die Finger heiser und klatschte sich die Kehlen wund. Und unten kombinierten sich die Bundesliga-Dominatoren 2002 in den letzten acht Minuten weiter in einen risikoreichen Rausch, wo andere Teams ängstlich die Bälle über die Tribünen gedroschen hätten. Den „größten Sieg der Vereinsgeschichte“ verortete Rudi Völler. Reiner Calmund, der Manager, diagnostizierte zeitweilig „Fußball in Perfektion“. Und niemand widersprach.

Dabei hatte Calmund sich um Understatement und demonstrative Zurückhaltung bemüht. „Wir gehören trotz dieses Sieges nicht zur Top 8 in Europa“, sagte er und hatte dabei die finanziellen Möglichkeiten der Reals, Inters und ManUs erwähnt. Bloß nicht abheben jetzt: „Gerade heute“ gelte es „schön die Bleischuhe anzubehalten“. Dabei war Calmund, selbst drei Zentner körpereigenes Blei, mit einem raketenhaften Satz beim Schlusspfiff abgehoben. „Trotz meines Gewichts bin ich ganz schön hoch gekommen“, fand er zu Recht. Im Halbfinale, gegen Manchester oder La Coruña, sei Bayer bereit „zum nächsten Schaulaufen“. Die Chancen? „50 Prozent.“

Alle hatten ein Geduldsspiel gegen die Abwehrstrategen aus Liverpool erwartet, die zuvor in 15 Europapokal-Auswärtspartien ungeschlagen waren. Es wurde ein Match mit offenen Visieren beider Elfen. Und einer überraschend schwachen Defensivabteilung der Briten, die endgültig überfordert war, als Didi Hamann nach einer Stunde den Platz verließ. Houllier versuchte seine Auswechseldummheit zu rechtfertigen: „Es war nicht sein bester Tag. Didi kam mit Bastürk nicht zurecht.“ Niemand kommt derzeit mit Bastürk zurecht. Und niemand mit dieser neuen Art von Brechstange aus dauerhaftem Kombinationswirbel.

Dennoch: Es war ein Abend für den Moment, nicht für die großen Träume. Als Michael Ballack, der überragende Doppeltorschütze, zum 1:0 getroffen hatte, ein Schuss wie ein Strahl, der ohne das Netz noch bis Köln weitergeflogen wäre, war er entgegen seiner kühlen Art auf Trainer Toppmöller zugerast und hatte ihn erdrückend umarmt. Eine Art Trost habe das sein sollen, sagte Ballack, weil der Coach „tagsüber so nachdenklich“ gewesen sei. Toppmöller sprach Ballack „feine Antennen“ zu; ja, er sei wirklich „niedergeschlagen gewesen“.

Der Grund: Ballack lässt sich ab Sommer an den fetten Brüsten des FC Bayern nähren. Für Dynamikmonster Lucio, der zum entscheidenden 4:2 eindrosch (84.), hat halb Fußball-Europa die Netze ausgelegt. Und Ze Roberto, der derzeit unstoppbare Linksfuß mit den Körperdrehungen jenseits aller Gravitationsgesetze, ist angeblich auch mit den hemmungslosen Wilderern aus dem Hause Hoeneß handelseinig. Toppmöller verriet in einem konjunktivischen Nebensatz den wahren Stand der Dinge: „Wir hätten gerne mit beiden weitergearbeitet.“ Das ist das Traurige am Fußball und an Bayer 2002. Das Diktat des Geldes macht ein wunderbares Team kaputt. Und das Groteske: Früher, zu Werksclubzeiten, stand gerade Bayer 04 für grenzenlose Zahlungsmöglichkeiten.

Jetzt wolle man „die Champions League gewinnen“, sagte Klaus Toppmöller, bar jeder branchenüblichen Zurückhaltung. Es klang wie ein selbst aufgeklebtes Trostpflaster.